Der Katalonien-Konflikt hält ganz Spanien und auch Europa seit Wochen in Atem. Beide Seiten, sowohl die Unabhängigkeitsbewegung in Barcelona als auch die Zentralregierung in Madrid, haben schwere Fehler gemacht. Führenden Sezessionisten drohen lange Haftstrafen. Eine Wiederannäherung über die Gräben hinweg erscheint kaum denkbar, auch nach der bald anstehenden Neuwahl des Regionalparlaments nicht. Die Wunden werden weiter schwären.
Das katalanische Drama ruft weitere ungelöste Regionalkonflikte in Europa in Erinnerung. In Schottland wartet die dortige Regionalregierung auf die nächste Gelegenheit für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum. Flämische Nationalisten wünschen einen eigenständigen Staat jenseits von Belgien. In Norditalien gab es vor kurzem ein Referendum für mehr Autonomie. Und in Südtirol hoffen einige auf einer Abspaltung von Italien. Das größte Sezessions-Beben, das EU-Europa erschüttert hat, war indes das Brexit-Votum, in dem sich die britischen Wähler vom EU-Verbund losgesagt haben.
Größe allein ist kein Qualitätskriterium
Sezessionsbewegungen haben oft kulturell-historische Gründe. Auch im 21. Jahrhundert, im Zeitalter der Globalisierung, sind regionale und nationale Identitäten starke Faktoren. Aber es gibt auch handfeste ökonomische Gründe für Sezessionsbewegungen. Meist sind es Nettozahler-Regionen, die sich vom Zentralstaat ausgebeutet fühlen. Katalonien gehört im innerspanischen Finanzausgleich zu den Regionen, die die höchsten Beiträge leisten müssen. Viele Flamen sind es leid, die sozialistischen armen Wallonen in einer Transferunion durchzufüttern. Das wirtschaftsstarke Norditalien will weniger an den Süden abführen. In Schottland wuchs der Wille nach Unabhängigkeit, als Ölfunde glauben machten, dass Schottland allein besser dastehen würde.
Die Gegner von Sezessionen argumentieren, dass die neu entstehenden Kleinstaaten mit je ein paar Millionen Einwohnern wirtschaftlich nicht überlebensfähig wären. Diese Behauptung ist falsch. Es gibt keinen Beleg dafür, dass Großstaaten wirtschaftlich erfolgreicher sind als Kleinstaaten. Einige der wohlhabendsten Länder in Europa und auf der Welt haben relativ wenig Einwohner. Größe allein ist kein Qualitätskriterium. Vor einigen Jahren hat der Harvard-Professor Alberto Alesina in dem Buch „The Size of Nations“ gezeigt, dass Größe ambivalent ist. Zwar ist ein großer Markt zweifellos ein großer Vorteil; außerdem gibt es Größenvorteile bei der Verteidigung oder anderen öffentlichen Gütern, wenn die Kosten auf viele Beitragszahler umgelegt werden können. Aber mit wachsender Größe nehmen auch bestimmte Nachteile signifikant zu: nämlich die Kosten und Schwierigkeiten, in einem heterogenen Land unterschiedliche Interessen unter einen Hut zu bringen. Es gibt keine „One size fits all“-Politik.
Freie, faire Wahlen als Grundvoraussetzung
Die Geschichte enthält unzählige Beispiele von Sezessionen, angefangen mit dem Freiheitskampf der Niederländer gegen die Spanier oder die Unabhängigkeitserklärung der Amerikaner von der britischen Krone; auch dabei ging es maßgeblich um Steuern, Abgaben und Zölle. In den vergangenen hundert Jahren ist die Zahl der Staaten durch Sezessionen, Aufspaltungen und Unabhängigkeitserklärungen enorm gestiegen. Im Jahr 1914 gab es 57 Staaten auf der Welt, Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts waren es rund 100. Heute – nach der Entkolonisierung und dem Zerfall des Sowjetreiches – sind 193 Staaten Mitglied der Vereinten Nationen. Oft ging die Unabhängigkeit einher mit blutigen Kämpfen. Ein positives Beispiel für eine friedliche, einvernehmliche Trennung lieferten Tschechen und Slowaken 1993.
Die Charta der Vereinten Nationen betont zwar das Selbstbestimmungsrecht der Völker, andererseits steht dem völkerrechtlich die territoriale Integrität von Staaten entgegen. Aus liberaler Perspektive sollte grundsätzlich – als letzte Möglichkeit – eine Sezession möglich sein, wenn eine Region nach reiflicher Überlegung die Unabhängigkeit will. Aber der Unabhängigkeitswille muss in einer freien, fairen Wahl mit ausreichender Beteiligung und qualifizierter Mehrheit festgestellt werden. Dies war in Katalonien bei dem wilden Referendum im September nicht der Fall.
Das Ende der Vision eines EU-Superstaates
Kommt es aber zu einer politischen Abspaltung, sollte man sich auf ein weitgehendes Freihandelsregime einigen, um den wirtschaftlichen Schaden für beide Seiten gering zu halten. In den Brexit-Verhandlungen scheint die EU-Seite aber alles daranzusetzen, dass der Brexit aus Sicht der Briten kein Erfolg wird. Die Gespräche sind festgefahren. Statt einer gütlichen Trennung wird ein schmutziger Scheidungskrieg geführt mit möglichst hohen offenen Rechnungen. Aber ohne „Deal“ würde der Handel schwer beschädigt, so dass alle Seiten schmerzhafte Verluste erlitten. Damit schadet sich EU-Europa auch selbst.
Die Briten haben der Brüsseler Vision eines EU-Superstaates den Garaus gemacht. Je zentralistischer ein Herrschaftsgebilde wird, desto stärker werden die Fliehkräfte. Ein wirksames Gegenmittel ist eine strikte Beachtung des Subsidiaritätsprinzips. Dezentralismus, Autonomie und Bürgernähe stärken die Stabilität von Staaten und Staatenverbünden langfristig mehr als Zwang und Drohungen.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung
Das katalanische Drama ruft weitere ungelöste Regionalkonflikte in Europa in Erinnerung. In Schottland wartet die dortige Regionalregierung auf die nächste Gelegenheit für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum. Flämische Nationalisten wünschen einen eigenständigen Staat jenseits von Belgien. In Norditalien gab es vor kurzem ein Referendum für mehr Autonomie. Und in Südtirol hoffen einige auf einer Abspaltung von Italien. Das größte Sezessions-Beben, das EU-Europa erschüttert hat, war indes das Brexit-Votum, in dem sich die britischen Wähler vom EU-Verbund losgesagt haben.
Größe allein ist kein Qualitätskriterium
Sezessionsbewegungen haben oft kulturell-historische Gründe. Auch im 21. Jahrhundert, im Zeitalter der Globalisierung, sind regionale und nationale Identitäten starke Faktoren. Aber es gibt auch handfeste ökonomische Gründe für Sezessionsbewegungen. Meist sind es Nettozahler-Regionen, die sich vom Zentralstaat ausgebeutet fühlen. Katalonien gehört im innerspanischen Finanzausgleich zu den Regionen, die die höchsten Beiträge leisten müssen. Viele Flamen sind es leid, die sozialistischen armen Wallonen in einer Transferunion durchzufüttern. Das wirtschaftsstarke Norditalien will weniger an den Süden abführen. In Schottland wuchs der Wille nach Unabhängigkeit, als Ölfunde glauben machten, dass Schottland allein besser dastehen würde.
Die Gegner von Sezessionen argumentieren, dass die neu entstehenden Kleinstaaten mit je ein paar Millionen Einwohnern wirtschaftlich nicht überlebensfähig wären. Diese Behauptung ist falsch. Es gibt keinen Beleg dafür, dass Großstaaten wirtschaftlich erfolgreicher sind als Kleinstaaten. Einige der wohlhabendsten Länder in Europa und auf der Welt haben relativ wenig Einwohner. Größe allein ist kein Qualitätskriterium. Vor einigen Jahren hat der Harvard-Professor Alberto Alesina in dem Buch „The Size of Nations“ gezeigt, dass Größe ambivalent ist. Zwar ist ein großer Markt zweifellos ein großer Vorteil; außerdem gibt es Größenvorteile bei der Verteidigung oder anderen öffentlichen Gütern, wenn die Kosten auf viele Beitragszahler umgelegt werden können. Aber mit wachsender Größe nehmen auch bestimmte Nachteile signifikant zu: nämlich die Kosten und Schwierigkeiten, in einem heterogenen Land unterschiedliche Interessen unter einen Hut zu bringen. Es gibt keine „One size fits all“-Politik.
Freie, faire Wahlen als Grundvoraussetzung
Die Geschichte enthält unzählige Beispiele von Sezessionen, angefangen mit dem Freiheitskampf der Niederländer gegen die Spanier oder die Unabhängigkeitserklärung der Amerikaner von der britischen Krone; auch dabei ging es maßgeblich um Steuern, Abgaben und Zölle. In den vergangenen hundert Jahren ist die Zahl der Staaten durch Sezessionen, Aufspaltungen und Unabhängigkeitserklärungen enorm gestiegen. Im Jahr 1914 gab es 57 Staaten auf der Welt, Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts waren es rund 100. Heute – nach der Entkolonisierung und dem Zerfall des Sowjetreiches – sind 193 Staaten Mitglied der Vereinten Nationen. Oft ging die Unabhängigkeit einher mit blutigen Kämpfen. Ein positives Beispiel für eine friedliche, einvernehmliche Trennung lieferten Tschechen und Slowaken 1993.
Die Charta der Vereinten Nationen betont zwar das Selbstbestimmungsrecht der Völker, andererseits steht dem völkerrechtlich die territoriale Integrität von Staaten entgegen. Aus liberaler Perspektive sollte grundsätzlich – als letzte Möglichkeit – eine Sezession möglich sein, wenn eine Region nach reiflicher Überlegung die Unabhängigkeit will. Aber der Unabhängigkeitswille muss in einer freien, fairen Wahl mit ausreichender Beteiligung und qualifizierter Mehrheit festgestellt werden. Dies war in Katalonien bei dem wilden Referendum im September nicht der Fall.
Das Ende der Vision eines EU-Superstaates
Kommt es aber zu einer politischen Abspaltung, sollte man sich auf ein weitgehendes Freihandelsregime einigen, um den wirtschaftlichen Schaden für beide Seiten gering zu halten. In den Brexit-Verhandlungen scheint die EU-Seite aber alles daranzusetzen, dass der Brexit aus Sicht der Briten kein Erfolg wird. Die Gespräche sind festgefahren. Statt einer gütlichen Trennung wird ein schmutziger Scheidungskrieg geführt mit möglichst hohen offenen Rechnungen. Aber ohne „Deal“ würde der Handel schwer beschädigt, so dass alle Seiten schmerzhafte Verluste erlitten. Damit schadet sich EU-Europa auch selbst.
Die Briten haben der Brüsseler Vision eines EU-Superstaates den Garaus gemacht. Je zentralistischer ein Herrschaftsgebilde wird, desto stärker werden die Fliehkräfte. Ein wirksames Gegenmittel ist eine strikte Beachtung des Subsidiaritätsprinzips. Dezentralismus, Autonomie und Bürgernähe stärken die Stabilität von Staaten und Staatenverbünden langfristig mehr als Zwang und Drohungen.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung